Was ist das Schlimme an der Chartsmusik?

[Turquoise]

Es gibt heute VIEL (!!!!!) mehr gute Musik und Musiker, als noch vor 40 Jahren.
Es sind so viele, die kann man/frau gar nicht alle kennen - daran bemerkst Du es.

Vielleicht ist die Dichte an musikalischen Könnern heute tatsächlich größer, als früher. Aber das kann auch gerade das Gegenteil bewirken.

In der Topografie spricht man bei Bergen von "Dominanz". D.h. wie weit entfernt von diesem Gipfel ist es bis zum nächst höheren. Ein in diesem Merkmal extremer Berg ist z.B. der Kilimanjaro. Obwohl er zweieinhalb- bis dreitausend Meter niedriger ist als die die höchsten Berge des Himalaja, hat er eine viel größere Dominanz als diese (abgesehen vom Mt.Everest), weil einfach im Himalaja und Karakorum die Sieben- und Achttausender-Dichte viel höher ist, als die 5000er-Dichte in Afrika. Der Kili steht weithin sichtbar allein und überragt alles. Die Achttausender Gipfel sind alle irgendwo zwischen anderen Achttausendern und hohen 7000ern versteckt.

So ist es denke ich auch mit guten Musikern und guter Musik. Sie müssen aus ihrem Umfeld herausragen, sonst gehen sie in der Masse der Superkönner unter. Ein guter Musiker sollte es auch mal darauf anlegen und schaffen, dass man seine Lieder - wie Mozart sagte - in allen Gassen pfeift. Davon höre ich heute nichts.

 

[SoulFrontier]

@artname

Ich glaube es liegt in der Natur der Sache dass Hobby Musiker, die in ihrer Freizeit EIGENE Musik komponieren und auch betexten, völlig anders auf Musik aus dem Radio schauen als dies der nicht musikbesessene Adressat tut.

Musik im Radio dient als Träger für Werbung bzw. als Leim an dem der Hörer kleben bleibt.
Gefällig, flott, leicht verdaulich. Daran ist nichts “schlimm“ oder “schlecht“.

Musik hier im Song Voting ist doch nicht vergleichbar.

Und “Chart Musik“ pauschal als Schrott bezeichnen ist reichlich dumm und natürlich Unsinn.

 

[Turquoise]

Und “Chart Musik“ pauschal als Schrott bezeichnen ist reichlich dumm und natürlich Unsinn.

Da fühle ich mich jetzt natürlich angesprochen.

Man kann mit positiven Ausnahmen argumentieren, klar. Doch mir (und ich denke auch anderen) geht es gar nicht um einzelne als angenehm oder unangenehm wahrgenommene Songs, sondern um das Gesamtbild, das vermittelt wird. Und das ist im Radio mMm tatsächlich unterirdisch.

Einmal ganz unabhängig davon, wie hier im SV musikalische Ideen und Problemstellungen im Einzelnen entwickelt und gelöst werden - also ganz egal, wie die Mischung, wie Soundauswahl und Arrangement oder das technische Können beim Einspielen geworden sind - finde ich, dass der Abwechslungsreichtum der hier präsentierten Musik (Stile / Genres, Songstrukturen, Sounds) um ein vielfaches Größer ist, als im Radio / in den Charts.

Musik im Radio bedient sich immer mehr längst hohl gewordener Phrasen, wie z.B. obligatorischer Eee-ooh-ee-ooh-Stadion-Mitgröhl-Passagen nach dem zweiten Refrain, darunter zunächst nichts, und dann Toms plus weit nach hinten gemischte overdrive-Gitarren oder düsenjetartige Keyboardfächen. Soll wohl "Größe" und "geile Stimmung" simultieren. Kann ich nicht mehr hören.
Die Texte, wenn sie deutsch sind, strotzen von pseudophilosophischem Geplapper à la "Das ist unsere Stunde", "es kann viel geschehen", "jetzt sind wir hier" " es wird für immer bleiben" usw. Fruchtbar, dieses sinnlose Gelaber.
Die Melodien sind keine ausgearbeiteten Melodiebögen mehr, sondern themenlose Kurzsequenzen mit sehr geringem Tonumfang auf der Tonleiter, meist nur innerhalb einer Quarte bis Quinte. Roberta Flacks "Killing me softly", George Michaels "Kissing a fool" oder The Carpenters "Top of the World" - das sind echte Melodiebögen, in sich selbst schlüssig und musikalisch folgerichtig, mit einem klasse Spannungsverlauf! Sowas ist heute eine Rarität mit Museumswert.
Man könnte noch viel aufzählen. Etwa die inflationär gebrauchten Akkordfolgen I - V - VIm - V und VIm - VII - I, auf denen gefühlt 90% der gegenwärtigen Popsongs basieren. Wessen Gehör auf Harmoniefolgen geschult ist, der kann da nur noch kotzen.
Man denkt, es geht nicht anders?
Hört mal Prince, Money don't matter 2nite an. Absolut ungewöhnliche Harmoniefolge im Pop. Funktioniert aber wunderbar. Man muss nur mal was anders machen wollen...

U s w U s f

 

[Cruba]

Die Texte, wenn sie deutsch sind, strotzen von pseudophilosophischem Geplapper à la "Das ist unsere Stunde", "es kann viel geschehen", "jetzt sind wir hier" " es wird für immer bleiben" usw.

Ich sing dann immer eigene Texte mit..."Morgens trink ich Tee und manchmal tut es weh, doch wenn ich in die Sonne schau' dann ist der Alltag nicht so grau"... Ich glaub ich schaff 50 solcher Texte in unter 3 Minuten. lol

Hört mal Prince, Money don't matter 2nite an. Absolut ungewöhnliche Harmoniefolge im Pop. Funktioiert aber wunderbar. Man muss nur mal was anders machen, als alle anderen...

Viel zu gefährlich! Mike Singer, das isses! Ja Ja... De De... rofl... Leider nur 25mio Aufrufe auf Youtube - also wird aus ihm wohl nix werden...

 

[Turquoise]

Mike Singer, das isses!

Bin mal gespannt , ob der auch eines Tages von Herbie Hancock gespielt wird, wie diese Prince-Komposition,

die mich mit 15 wegen der brutalen, lasziven Blues-Harp, der furztrockenen Aggressivität und dem Soul total weggebeamt hat. Und ja, auch sonst eine fantastische Melodie und herrlicher Songaufbau. Eines der besten von Prince.

 

[mjmueller]

Dir ist bewußt, dass dieses "Konzept" nur durch das Internet funktionieren kann?

Nicht ganz. Das gab es auch schon in den 90ern ohne Internet. Aber Internet ist so etwas wie der Katalysator und zugleich die Plattform dieser Entwicklung.
Für diejenigen unter euch, die noch Plattenläden kannten: Da standen die Alben recht lange rum, weil eben viele Künstler nur alle paar Jahre was veröffentlichten. Man/Frau konnte fast alles kennen.

Worauf ich wirklich gespannt bin ist die musikalische Verflachung der nächsten 100 Jahre

Meine Prognose: Stile werden sich noch mehr ausdifferenzieren und dann ... kommt alles wieder, nur eben etwas anders

 

[Turquoise]

Meine Prognose: Stile werden sich noch mehr ausdifferenzieren und dann ... kommt alles wieder, nur eben etwas anders

Ich denke, es wird so werden wie mit den Tattoos: erst hatten nur wenige eines und waren damit etwas Besonderes. Heute ist jeder zweite Körper großflächig tätowiert. Optisch verschmilzt so alles zu einem immer gleichförmigeren Massenerscheinungsbild. D a s Tattoo, das jemanden aus der Masse heraushebt, gibt es dann gar nicht mehr. So wird es auch mit der Musik, denke ich...

 

[Cruba]

Jo, ich wurde echt schon drauf angesprochen, wieso ich "keine" Tattoos habe... War recht strange... lol

 

[Summerhunter]

Da die erste Generation "Arschgeweih" mittlerweile stramm auf die Rente zusteuert, sehe ich beim Einkaufen immer wieder "Gemälde" wo die Spannung der "Leinwand" extrem nachgelassen hat.

60 oder gar 70+ Altrocker mit Winkeärmchen sehen mit Tattoos aber auch nicht so doll aus. Sehe manchmal so ein paar Exemplare, da hat nur noch der große Biermuskel ausreichend Spannung.

Da bin ich mit meinem damals selbst gestochenen Ohrläppchenpiercing (noch so mit Stopfnadel und Kartoffel) echt zufrieden, da schlabbert noch nix.

 

[TonyPizza]

Das mit den Tattoos finde ich auch zu herrlich, wie sehen die alle aus wenn das Bindegewebe nachgelassen hat im Alter?

 

[muffy]

Da die erste Generation "Arschgeweih" mittlerweile stramm auf die Rente zusteuert, sehe ich beim Einkaufen immer wieder "Gemälde" wo die Spannung der "Leinwand" extrem nachgelassen hat.

60 oder gar 70+ Altrocker mit Winkeärmchen sehen mit Tattoos aber auch nicht so doll aus. Sehe manchmal so ein paar Exemplare, da hat nur noch der große Biermuskel ausreichend Spannung.

Da bin ich mit meinem damals selbst gestochenen Ohrläppchenpiercing (noch so mit Stopfnadel und Kartoffel) echt zufrieden, da schlabbert noch nix.

 

[Summerhunter]

Das bei 1:20 find ich Hammer

 

[mjmueller]

Bei Tattoos kommt es immer auf die richtige Stelle an
Meine Stellen werden bis zuletzt ordentlich Spannung haben
(mehr verrate ich jetzt nicht - es sei denn Du bist eine sehr aparte Dame)
OT Ende

 

[gyn]

opel



Konstantinopel

 

[Kosaken-Kaffee]

Meine Stellen werden bis zuletzt ordentlich Spannung haben

Aber auch nur dank der kleinen blauen Pillen.

 

[mjmueller]

Hauptsache Spannung

 

[artname]

Ok. Das war für mich sehr interessant. Mir wird langsam klarer, dass die Charts und dieses Forum unterschiedliche Altersgruppen repräsentieren. In den aktuellen Charts gibt es beispielsweise momentan viel Rap und Hiphop - ein Genre, das in der Diskussion gar nicht zur Sprache kam und auch selten im Songvoting auftaucht.

Ich bin überrascht, dass kaum* jemand sich niemand an unterschiedliche Bewertung von Charts und Songvoting stößt... aber verstehen kann ich es allemal.

Auch ich höre mir die monatliche Sendung der Plazierten gern an, da mir die Ideen oft sehr gut gefallen und die Umsetzung für Homerecording manchmal ganz erstaunlich ist!!

Danke für die die vielfältigen Meinungen.

lg

* @Turquoise , ich teile deine Meinung mit der Schwierigkeit, unter lauter Stars überhaupt noch zur Geltung zu kommen. Vielleicht werden für die Charts auch irgendwann neue Bewertungssgrundlagen geschaffen werden müssen....

 

[Summerhunter]

@artname,

ich bin mir nicht sicher, ob die wenigen Rap/Hiphop-Erwähnungen an der Altersstruktur liegen. Ich glaube eher, dass der Unterschied zwischen dem, was "on air" ist und dem, was per Stream etc. abgerufen/verkauft wird, eklatant ist. Die meisten hier bezogen sich immer wieder auf die "Radiocharts", die ja letztlich keine offiziellen Charts sind.

Egal, ob ich 20 bin oder 60: wenn mich Rap/Hiphop nicht tangieren, komme ich mit denen auch ohne gezielte Suche kaum in Berührung. Mein Sohn ist z. B. Anfang 20, macht selbst so DJ-Mix-Geschichten und hat mit Rap/Hiphop über Haupt nichts am Hut, hört aber extrem viel aus den 80ern und frühen 90ern (Wave, NDW, Kraftwerk, DAF etc.).

Im Radio ist die spontane Begegnung mit Rap/Hiphop fast ausgeschlossen, da es kaum Sender gibt, die diese Songs senden. Bei den Streamingdiensten liegt es an meinen Präferenzen, was die mir als Empfehlung präsentieren.

Selbst Playlists wie die "50 besten Songs 2018" oder "50 meistgehörten Songs des Monats" etc., die z. B. Amazon Prime Music anbietet, weichen in puncto "Rap/Hiphop-Präsenz" deutlich von den aktuellen Charts ab.

Wenn irgendwann RTL die "ultimative Chartshow - die Hits 2018 mit Olli Geissen" versendet, wird es mit Sicherheit ebenfalls so sein, dass die dort präsentierten Songs nicht die offiziellen Charts repräsentieren werden.

Vielleicht verkaufen sich Rap/Hiphop gerade deshalb so gut, weil sie kaum "kostenlos" on air sind?

 

[artname]

Ichtig, @Summerhunter , ich schrieb nichts von Radiocharts, da ich weiß, dass Radiosongs bestimmte "Qualitäten" erfüllen müssen - was einige Genres (Rap, Metal, Punk usw) generell fast ausschließt. Ich verstehe (leider) die Radiomacher und deren Werbekunden, hoffe aber, dass allein die ökonomische Entwicklung das Dampfradio zwingt, seine Einseitigkeit mehr und mehr zu überdenken.

Ich glaube aber auch nicht, dass HIER überdurchschnittlich viele Radiohörer schreiben. Ich glaube aber, dass Rapper hier kaum fündig werden. Der nette Tonfall der Kommentare, das fehlende Know-how (beispielsweise im Texterforum) signalisieren einem Rapoer oder Hiphopper nicht gerade, unter seinesgleichen zu sein....

Andererseits hat Rap/Hiphop eine symbolische Sprache, die man auf dem Schulhof, aber nicht im Büro kennt.

Rap/Hiphop hat mMn Dollaraugen wie kein zweites Genre. Angefangen von den "Überraschungspacks", mit denen die Tonträger gesponsert und beworben werden, über die Schleichwerbung in den Texten und Interviews bis zu den Live-Events. Auch das schlägt sich in den Charts nieder.

 

[Summerhunter]

@artname, bin bei den meisten Punkten bei Dir, insbesondere bei der kommerziellen Einordnung von Rap/Hiphop sowie den Radiosendern.

Für mich war es halt auffällig, dass in mehreren Beiträgen die aktuellen Charts mit den Radiocharts verwechselt wurden, weil die offiziellen Charts eh kaum einer kennt.

Bezüglich der Hiphop/Rapper-Dichte in diesem Forum kann ich keine Aussage treffen, dazu bin ich zu kurz hier.
Hatte aber in dieser kurzen Zeit bisher den Eindruck, dass es durchaus einige Vertreter dieses Genres gibt, vielleicht jedoch mehr auf der "Producer-" als auf der Texter-Ebene.

Wobei ich, als ich dieses Forum fand, durch den Titel recording.de hier auch hauptsächlich die technische Ecke verortet hatte und weniger die "kreative".

Am Rande: Habe letzte Woche einem eingefleischten Beatles-Fan, der einen eigenen Radiosender betreibt, einen Screenshot der Charts geschickt, mit Yellow Submarine auf Platz 55. Der wollte von mir wissen, was das für eine Liste sei und wo ich die her habe.