Die Moritat von der Dynamik der Gewalt

[rho]

Von "20 Bars" inspiriert, nun ein Couplet mit stilistischen Anleihen an populäre Formen des rhythmischen Sprechgesangs unter vorwiegender Verwendung allgemeinsprachlichen Vokabulars.

Die Moritat von der Dynamik der Gewalt

Junge Eltern überfordert mit dem klugen Kind
kluges Kind, dass seinen Eltern einfach nicht entrinnt
hat schon früh gelernt wie man perfekt Fassaden malt
Das ist die Moritat von der Dynamik der Gewalt

Mutter wünscht sich jeden Tag von der Familie fort
Vater bringt das Kind zum Schweigen - jetzt kein Widerwort
Eines Tages, spürt das Kind, wird zurückgezahlt
Das ist die Moritat von der Dynamik der Gewalt

Ich ich hole Luft, ich ball die Faust und schon rächt es sich
dass der lauteste im Raum auch meist der Schwächste ist
Wie ihr bin ich geladen - ohne dass es knallt
Das ist die Moritat von der Dynamik der Gewalt​

Für deinen Job ist nur der Mindestlohn kalkuliert
In naher Zukunft wird auch der noch automatisiert
Sei dankbar für das Schweigegeld das man dir zahlt
Das ist die Moritat von der Dynamik der Gewalt

Hinter verschlossnen Türen tut man was man kann
da herrscht Ruhe und Ordnung, dafür ist man Mann
Mit den Noten braver Kinder wird beim Bier geprahlt
Das ist die Moritat von der Dynamik der Gewalt

Ich hole Luft, ich ball die Faust und schon rächt es sich
dass der lauteste im Raum auch meist der Schwächste ist
Wie ihr bin ich geladen - ohne dass es knallt
Das ist die Moritat von der Dynamik der Gewalt​

Ein Leben lang im Frieden, dass man ganz vergisst,
dass unser Frieden nur der Krieg ganz woanders ist
So lieg ich eines Tages da: fett und alt
Das ist die Moritat von der Dynamik der Gewalt

Ich werd mit dem Gesicht einfach zur Wand gedreht
von gestresstem Personal, dass mich kaum versteht,
einst geflohen, jetzt versklavt oder schlecht bezahlt
Das ist die Moritat von der Dynamik der Gewalt

Ich ich hole Luft, ich ball die Faust und schon rächt es sich,
dass der Älteste im Raum auch meist der Schwächste ist
Dann kommt meine Himmelfahrt - schönen Aufenthalt
Das ist die Moritat von der Dynamik der Gewalt​

Ich ich hole Luft, ich ball die Faus und schon rächt es sich
dass der lauteste im Raum auch meist der Schwächste ist
Wie ihr bin ich geladen - ohne dass es knallt
Das ist die Moritat von der Dynamik der Gewalt​

 

[Turquoise]

Die Grundidee finde ich sehr gut. Aber ich finde, man könnte noch mehr rausholen.

Erstmal würde ich - so wie es nicht irgendeine Mannschaft, sondern die Magdeburger Handballmannschaft ist - im Titel präzisieren, um welche Moritat es sich handelt, nämlich um:

die Moritat von (der Dynamik) der Gewalt

Dann finde ich, dass die Aussagen nicht genug verdichtet sind. Wenn Deine Zeilen und Silben schon so fix sind weil eine Melodie dahinter steht, könnte man in jede Zeile fast doppelt so viel Stoff/Information unterbringen.

Die erste Zeile z.B.

Junge Eltern überfordert mit dem klugen Kind - 13 Silben

die Aussage bekommst Du schon in 6 bis 7 Silben hin:

Junge Eltern, Kind zu klug ... (oder: Eltern jung, Kind zu klug)

dann hättest Du noch 6 bis 7 Silben für die Konsequenz daraus, für die Du in Deinem Text die nächsten zwei Zeilen brauchst.

usw.

 

[jet2]

schöner text!
ja und die 3 gründe dafür, daß es nicht knallt, sind
feigheit, faulheit und unterdrückung...

 

[rho]

Danke @Turquoise, aber wenn es mir nicht um die

stilistischen Anleihen an populäre Formen des rhythmischen Sprechgesangs

ginge, hättest du recht. Keine "Melodie" also. Es muss vor allem bei relativ gleichmäßiger Silbendichte (hautptsächlich 16tel) rhythmisch passen. Ich habe gesagt was ich wollte, so what?

 

[Turquoise]

Keine "Melodie" also. Es muss vor allem bei relativ gleichmäßiger Silbendichte (hautptsächlich 16tel) rhythmisch passen. Ich habe gesagt was ich wollte, so what?

Ah sorry, hatte ich irgendwie überlesen. Dann hat sich mein Post erledigt.
(Ich muss mich erst noch dran gewöhnen, dass hier in letzte Zeit so viele Texte als handwerkliche Übungen eingestellt werden...)

 

[artname]

hi @rho, sehr schön. Klare Idee, konsequent durchgeführt. Ich bin rationell wie auch emotional vom Text berührt. Prima! War's das?

Noch etwas fällt mir auf: der Erzählstil. Lakonisch würde ich ihn nicht nennen. Dafür ist er nicht provokant genug. Er wirkt eher sachlich. Er agiert mit politisch korrektem Ausdruck und Syntax. DAS wird garantiert viele Freunde finden. Aber da du meine "20 Bars", also meine Anleihe beim Rap, erwähnst: Die Rapper und Hiphopper suchen nach aggressiven Ausdrücken. Das hinterlässt spürbare Wirkung. In der Gesellschaft. Bei mir.

Ich denke gerade nach, ob das meinem Naturell entspricht. Vom Temperament durchaus. Von der Erziehung her tu ich mich schwer... Ich werde in diese Richtung meine künstlerische Freiheiten weiter ausdeuten. Vielleich deutet Turquoise im Grunde auf etwas Ähnliches...

Nun sind meine aktuellen Reibeflächen natürlich selten die der Anderen.

lg

 

[rho]

Doch noch etwas fällt mir auf: der Erzählstil. Lakonisch würde ich ihn nicht nennen. Dafür ist er nicht brutal genug. Er wirkt eher sachlich.

Na, jetzt fängst du auch noch an, "feist zu schleimen"

Ich habe die Zeilen

Ich ball die Faust ich hole Luft und schon rächt es sich
dass der lauteste im Raum auch meist der Schwächste ist

schon seit 2015 (oder früher) im Kopf und habe sie mal bei einem Songtext-Workshop mit der Anmerkung in die Runde geworfen, dass der Text sich um Gewalt drehen sollte. Da wurde ich sofort gefragt, ob ich mit dem Text Gewalt verherrlichen wolle. Nee will ich nicht. Ich will sie auch nicht zum Hilfsmittel der Affirmation machen. Aus dem Alter bin ich raus.
Tatsache ist aber, dass es das erste Mal ist, dass ich mit einer rap-ähnlichen Silbendichte experimentiere, so dass die Sprache neben dem Inhalt auch zum Träger des Rhythmus wird. An der Schärfe kann ich sicher noch in künftigen Texten arbeiten. Für diesen reicht es mir erstmal.

 

[artname]

An der Schärfe kann ich sicher noch in künftigen Texten arbeiten. Für diesen reicht es mir erstmal.

Sehe ich auch so. Zumal die Abkehr vom sachlichen Sprachstil nicht nur Zustimmung hervor bringt.

 

[rho]

@Turquoise, ich hatte den Titel so kurz gefasst, damit er leichter zu erinnern ist. Dafür ist er aber auch sehr verwaschen. Jetzt habe ich ihn doch gerändert. Danke für den Hinweis.

 

[artname]

Aber Apropos Affirmation: Was meinst du damit:

Ich will sie ( verbale Gewalt?) auch nicht zum Hilfsmittel der Affirmation (Selbstbejahung?) machen. Aus dem Alter bin ich raus.

 

[mWermut]

Hi @rho,

Die Moritat

den Text find ich gut, aber mein Verständnis von Moritat weckt Erwartungen, die der Text nicht bedient. Das sind eine berichtende Erzählperspektive, gruselige Momente mit skurilen Details, dazu unkontionell witzige Wort- und Satzkonstruktion. Als Tipp: http://www.students.uni-mainz.de/delmc005/moritaten.html.

Wo siehst du den Bezug zur Moritat?

Viele Grüße, m

 

[SoulFrontier]

finsterer Text so finde ich, zeigt ein paar Möglichkeiten auf für Entstehung von Gewalt. Hm.

Moritat? Kenne ich anders, so wie @mWermut

 

[artname]

Tja, @rho, mein Titelvorschlag: "Über Gewalt" oder "Gewalt".
Gerade verbinde ich mit "Dichtung" nicht nur die Ausweitung annehmbarer Assoziationen, sondern auch die Eingrenzung unannehmbarer.

Wenn ich diesem Gedanken folge, macht es wirklich Sinn, jede noch sobetonte Silbe unter die Lupe zu nehmen - auf ihre Verzichtbarkeit zu prüfen. Was gibt eine Silbe, was nimmt sie?

 

[rho]

Mo·ri·tat
Substantiv, feminin [die]

1. 1.
   von einem Bänkelsänger (mit Drehorgelbegleitung) vorgetragenes Lied mit meist eintöniger Melodie, das eine schauerliche oder rührselige (auf einer Tafel in Bildern dargestellte) Geschichte zum Inhalt hat [und mit einer belehrenden Moral endet]

@mWermut, @SoulFrontier: so meine ich es mit leicht ironischer Brechung: (k)eintönige Melodie, da Sprechgesang, schauerlicher Inhalt (in Sequenzen bzw. Strophen), belehrende Moral (wenn auch etwas durch die Blume).
Bänkelsang und Drehorgel würde ich allerdings zeitgenössisch anpassen

 

[rho]

Wenn ich diesem Gedanken folge, macht es wirklich Sinn, jede noch sobetonte Silbe unter die Lupe zu nehmen - auf ihre Verzichtbarkeit zu prüfen. Was gibt eine Silbe, was nimmt sie?

Obwohl ich dein Argument verstehe, regt sich in mir instinktiv Widerwille. Möglicherweise folge ich deinem Rat, wenn ich den Text in späteren Kontexten verwende.