Das wirklich spannende wird mMn eben - wie ja hier bereits auch schon mehrfach erwähnt - tatsächlich sein, ob es einer KI gelingt, aus einem Regelwerk dergestalt auszubrechen, dass es a) eben wirklich einen Ausbruch aus einem Regelwerk darstellt, dass b) eine gewisse Rückkehr zu eben jenem Regelwerk gelingt und c) die ganze Geschichte so gut verpackt wird, dass der Ausbruch aus dem Regelwerk (bzw. die Rückkehr dahin) "organisch" klingt.
Was die Regeln an sich anbelangt, so sind die ja in unserer westlichen Hemisphere (und da wieder speziell im Pop/Rock-Bereich) durchaus sehr überschaubar - bzw. eben zumindest so lange, wie sich die Musik in diesem Rahmen bewegt, was allerdings bei einem sehr großen Anteil der Fall ist. Stereotype Akkordprogressionen wohin das Auge schaut (bzw. das Ohr hört) und rhythmisch ist auch nicht viel mehr los.
Solange es also zumindest erst einmal harmonisch im diatonischen Bereich bleibt und rhythmisch grob die Vorgabe "Kick auf 1+3, Snare auf 2+4" verfolgt wird, sollten das ja ganz ausgezeichnete Rahmenbedingungen für eine KI sein.
Eine Vorgabe a la "hier ist ein F-Dur, das ist unsere Tonika, wir wollen in Takt 9 wieder da landen, füll das mal bitte mit 4-6 passenden Akkorden deiner Wahl auf" sollte für eine KI nichtmal Grundschulniveau sein.
Enge Stimmführung ist ein weiteres Kinkerlitzchen, kann man einfachst automatisieren.
Auch was Melodien angeht, kann man die bspw. sehr gut auf ein "sangliches" Maß einschränken ("benutze nur Sekunden und Terzen innerhalb einer Oktave"), potentiell "schräge" Töne (aka "avoid notes") sind allerbestens per Reglement dokumentiert und lassen sich von daher vermeiden.
Lass dann nochmal die Drums auf den Bass "hören" (können ja jetzt schon fast sämtliche dieser Drum-Engines a la Jamstix oder Logic-Drummer) und fertig ist der Lack.
Die ganze Nummer füttert man dann wie im Schach mit einer "Eröffnungsbibliothek" und schon kann man sich vor Tausenden von neuen Kompositionen nicht mehr retten.
Selbst das zumindest streckenweise Verlassen bspw. einer diatonischen Ebene sollte noch sehr leicht per Algorithmus zu bestellen sein. "Bau mir in den 8 Takten von Tonika F zur Rückkehr bitte mindestens eine Sekundärdominante ein" ist eine überschaubare Aufgabe, auch (bzw. sogar gerade) für eine Maschine. Und selbst "ich möchte gerne, dass von unseren 29 Melodietönen 25% chromatisch angesteuert werden" sollte noch sehr einfach zu implementieren sein.
Dito für womögliche rhythmische Vorgaben. Notendichte und -verteilung aber auch sowas wie "mehr/weniger Synkopen" sollten sich doch prima algorithmisch verarbeiten lassen.
Nur mit diesen Vorgaben sind vermutlich bereits 80-90% der Popmusik der letzten 5 Jahrzehnte abgedeckt.
Hinsichtlich klassischer Werke verhält es sich nicht wirklich anders, wie ja auch das zuletzt gezeigte Bach Doodle recht eindrucksvoll demonstriert hat. Die Sache mag da komplexer werden, das Meiste folgt aber trotzdem sehr eng gesteckten Regeln, die einer KI durchaus zu vermitteln sein dürften.
Ich kann mir folglich sehr gut vorstellen, dass es da, quasi in "Loopbaukasten 2.0" Manier, in nicht allzu weit entfernter Zukunft (bzw. streckenweise schon heute, s. diese "Captain" Plugins) haufenweise Musik geben wird, die sich genau solcher algorithmisch erzeugten Sachen bedient. Dann zappt man noch durch ein paar Styles (auch heute schon ohne weiteres möglich), garniert das mit ein paar Soundschnipseln von Loopcloud und *zack* steht der Hit.
Oder eben auch nicht.
Diese KIs werden zwar in der Lage sein, in unfassbar kurzer Zeit Fantastillionen von Werken zu erzeugen, die alle dem westlich-geschulten Ohr plausibel vorkommen und als "kann man so machen" durchgehen sollten, was aber bisher nicht möglich erscheint, sind geschmackliche Einschätzungen. Da wird auch die beste KI nichts machen können.
Denn, anders als eben bspw. im Schach, ist musikalischer Erfolg nicht an einem Endziel a la "setze den König matt" auszumachen.
Weshalb ist denn Ed Sheerans "Shape of You" (ungeachtet dessen, ob man das jetzt selber gut findet oder nicht) ein Hit? Akkordfolgen und Melodien dieser Machart sollte eine KI in Tausenderblöcken auszuwerfen in der Lage sein. Da ist kompositorisch wirklich absolut *nichts* dran.
Auch seitens der Produktion ließe sich die Anzahl und Art der Elemente, die man einer KI, die diesen Bereich ebenfalls abdecken sollte, mitteilen müsste, sicherlich überschaubar halten (der Schieberegler für die Rhythmik wäre dann auf "dezent synkopiert" und bei der Soundauswahl eher "perkussiv" als "flächig").
Naja, und dann schmeißt die Kiste eben 2817 Versionen raus. Welche nimmt man jetzt als Hit-Vorlage? Zum bloßen Durchhören bräuchte man bereits zwei volle Tage ohne Schlaf, selbst wenn man sich auf 1 Minute beschränkt.
Und nun kommt's: In der Zeit, die ich da allein bräuchte, um die Spreu vom Weizen zu trennen (und das auch nur ganz grob), habe ich aber selbst als nur mäßig ausgebildeter Musiker bereits 2 Versionen eines ganz ähnlichen Stückes am Start, bei denen ich mich aber von Anfang an von meinem Geschmack leiten lassen kann, also alle anderen Entscheidungen direkte, intuitive (!) Folgehandlungen sind. Im Falle der KI müsste ich aber, wenn es noch nicht so richtig für den Hit passt, erneut zumindest 87 neue Versionen der in die engere Auswahl gelangten Vorlaufkandidaten generieren lassen. Ich kann da also nur Stück für Stück eingrenzen, bis es meinen Geschmack trifft.
Die einzige Möglichkeit, eine KI mit einer "instant Top 100" Funktion auszustatten, wäre, als Vorbedingung, zu wissen, warum genau denn "Shape of You" ein Hit ist und die dafür - soweit überhaupt erfassbaren - erforderlichen Parameter dann so weit einzugrenzen, dass aus den 2817 Versionen eben nur 3 werden.
Und naja: Wieso ist denn "Shape of You" jetzt ein Hit? Diese Frage wird hier niemand wirklich zu 100% wasserdicht beantworten können. Und selbst wenn sich die möglichen Antworten auf einen gewissen Parametersatz eingrenzen ließen (was ich übrigens tatsächlich für möglich halte), so blieben der KI auch innerhalb dieses enger eingegrenzten Parametersatzes immer noch genug Möglichkeiten, um uns eben doch mit 2817 Versionen zu überraschen - und nicht nur mit den angestrebten 3. Alles Hits - wow! Also gut, dann produzieren wir eben *alle* Möglichkeiten aus und veröffentlichen die. Klar.
Und dieses Szenario umfasst lediglich ein ganz schnödes, diatonisches Harmonieumfeld inkl. extrem schlicht gestrickter Melodien, das Ganze dann über einem dezent gepimpten 2+4 Beat (im Falle von "Shape of You" müssten wir den "Ethno" Slider etwas hochschieben).
Was, wenn auch noch harmonische Ausbrüche vorkommen sollen? Dann sind wir plötzlich nicht mehr bei 2817 Variationen, die uns die feine KI raushauen könnte sondern können getrost noch mindestens eine Null ranhängen. Und wenn wir uns in das Gebiet einer Komposition bspw. vom Schlage eines "After The Love Has Gone" (Earth, Wind and Fire) vorwagen, sind wir bei einem Parametersatz, der Millionen und Abermillionen an Variationen zulassen würde. Die können wir dann halt nicht mehr durchhören. Was im Endeffekt bedeuten würde, dass wir an sich auch gleich die erste Möglichkeit nehmen könnten. Die können wir dann auch aufnehmen und veröffentlichen. Wird die dann ein Hit, weil sie sich ja desselben Parametersatzes wie "ATLHG" bedient? Klar - und zwar mit genau derselben Gewissheit, mit der heute irgendwas ein Hit wird. Und wenn sie keiner wird? Beißen wir uns dann in den Arsch, dass wir nicht doch weitere 675 KI-generierte Vorschläge durchgehört, produziert und veröffentlicht haben? Na gut, machen wir dann beim nächsten Anlauf, oder?
Unterm Strich: Wer braucht das?
Um eine Gelddruckmaschine zu werden (und das ungeachtet der Tatsache, dass ja nun gerade Musik nicht mehr so richtig das gelddruckende Geschäftsmodell ist - wir können da also auch gerne die Situation vor 30 Jahren als Grundlage nehmen...) müsste die KI zwingend in der Lage sein, neben der Beherrschung musikalischer Gesetzmäßigkeiten auch geschmackliche Urteile treffen zu können. Und das halte ich für absolut ausgeschlossen. Dafür müsste die KI das entwickeln, was ja in dem Umfeld generell als der ganz große Schritt angesehen werden dürfte, nämlich ein Bewusstsein. Und davon sind wir aktuell noch ganz weit entfernt.
Taugen tut sowas also nur für Leute, die schlichtweg keinen Bock haben, sich gewisse musikalische Kenntnisse anzueignen. Guten Tag, Loopbaukasten 2.0.
