Das Tempo

[Turquoise]

Gestern machte ich eine ziemlich interessante Entdeckung, die ich Euch einmal mitteilen will.

Dass mit Schlagzeug und ohne Click eingespielte Songs Temposchwankungen haben, ist ja bekannt. Dann heißt es, der zweite Refrain sei 3 bpm schneller als der erste, die Strophen insgesamt etwas langsamer, derweil der Song im Outro noch mal deutlich anzieht usw.

Doch das kommt nicht einmal entfernt der Wirklichkeit nah, wie ich gestern herausfand.

Ich wollte einen Song, von dem ich nur ein live eingespieltes Proberaum-Demo habe, so genau wie möglich nachbauen, weil er mir vom Tempo-Feeling her nahezu perfekt vorkommt. Es war mir nicht möglich, ein Tempo zu finden, in dem der Song wenigstens annähnernd durchgeht. Also begann ich, unter 'Globale Spuren' den Tempoverlauf so anzupassen, dass wenigstens die Eins jedes Taktes immer passt - wobei auch das nicht immer möglich war, ohne innerhalb des vorangegangenen Taktes noch einmal eine Tempoanpassung vorzunehmen.

Am Ende hatte ich auf einer Songlänge von 3:50 min das Tempo 75 mal angepasst (also 76 Tempi) - mit Schwankungen zwischen wenigen zehntel bpm bis hin zu mehreren bpm. Der Song ist also eine einzige Temposchwankung. Es gibt keine längere zusammenhängende Passage im gleichen Tempo. Maximal 3 Takte würde ich sagen. Teilweise musste ich das Tempo schon nach zwei Vierteln wieder ändern.

Aber - und das ist das Besondere: es klingt wirklich sehr, sehr musikalisch und schön.

Kann sich jetzt jeder selbst seine Schlüsse draus ziehen . . . oder auch nicht.

 

[IMachine]

Das ganze Geraderücken ist ein Unding bei der Produktion. Ecken und Kanten sind doch wunderbar. Es atmet und hat Feeling!
Click sollte verboten werden!

 

[Turquoise]

Es atmet und hat Feeling!

Klar. Doch dass es de facto überhaupt kein reales Tempo gibt, sondern sich alles mehr oder weniger in einem Tempobereich abspielt, war für mich eine Erkenntnis.

Da waren die früher schon weiter: die sagten einfach "allegro" und dann wusstest du, es muss flott sein. Aber innerhalb dessen gibt es jede Menge Spielraum mit Schwankungen.

Heute heißt es, der Song ist in Tempo 126, dann stellst du dir das ein und kloppst das in 126 auf den Punkt durch - und wenn Du mal daneben bist, ärgerst du dich. Dabei hast du vielleicht genau in dem Moment, in dem du daneben warst, wirklich Musik gemacht, die aus dir selbst heraus kam, bist einmal nicht eine Maschine gewesen, die versucht, sich mit dem Click zu synchronisieren.

 

[Sascha Franck]

Am Ende hatte ich auf einer Songlänge von 3:50 min das Tempo 75 mal angepasst (also 76 Tempi) - mit Schwankungen zwischen wenigen zehntel bpm bis hin zu mehreren bpm. Der Song ist also eine einzige Temposchwankung. Es gibt keine längere zusammenhängende Passage im gleichen Tempo. Maximal 3 Takte würde ich sagen. Teilweise musste ich das Tempo schon nach zwei Vierteln wieder ändern.

Ist doch ganz normal bei Titeln, die ohne Klick eingespielt wurden. Klar, die Genauigkeit variiert je nach Stilistik und ausführenden Musikern, aber streckenweise gibt's auch bei absoluten Top-Leuten wirklich recht große Schwankungen.
Ich habe früher recht häufig Sachen "ge-beatmappt", sowohl eigenes Band-Zeugs wie auch bekannte Sachen (die dann zwecks Backing-Erstellung möglichst genau nachgebaut werden sollten), streckenweise bin ich aus reinem Interesse extrem genau vorgegangen - und da sind 75 Tempo-Eingriffe eher schon wenig (ich wollte aber in der Tat auch kleinere Timingschwankungen einbeziehen).

Ich persönlich finde es allerdings bei dem meisten Kram nicht schlimm, dass mittlerweile überwiegend zum Klick gespielt wird. Man braucht halt einen Drummer, der auch zum Klick in der Lage ist, gewisse Groove-Feels adäquat zu transportierten, das können heutzutage aber die meisten.

Bei einigen Stilistiken sollte man natürlich trotzdem versuchen, die Sachen eher ohne Klick hinzubekommen. Im Einzelkämpfer-Recording-Biz ist das allerdings extrem schwierig, da jegliche Interaktion fehlt.

 

[Brunhilde]

Kann man das hören?

 

[akStudio]

Mehr oder weniger subtile Temposchwankungen sind nach meinem Verständnis - wie auch Lautstärkevariationen - Teil der Musik.
Deshalb ist es für mich unverständlich, dass gehobene Apps wie Cubasis immer noch ohne Tempotrack daherkommen.

Kann man das hören?

Man nimmt es auf jeden Fall wahr. Manche bewusst, andere unbewusst.

Wie stark die Temposchwankungen auch bei Profibands ausfallen können, merkt man, wenn man mal alte CD-Tracks in eine DAW zieht und dann daraus eine Tempospur erzeugt.

 

[Sascha Franck]

Wie stark die Temposchwankungen auch bei Profibands ausfallen können, merkt man, wenn man mal alte CD-Tracks in eine DAW zieht und dann daraus eine Tempospur erzeugt.

Sind jetzt als Musiker per se vielleicht nicht die Mega-Time-Chefs, aber durchaus professionell (das wird man eher nicht abstreiten können), ein Paradebeispiel dafür ist für mich "Wild Horses" von den Rolling Stones. Geht irgendwie so um die 64BPM los und endet auf kurz unter 80BPM (soweit ich mich recht entsinne) - plus etlicher ziemlich krasser Schwankungen mittendrin. Und auch wenn das 'ne Ballade ist, an sich geht die Time ja durch, ist eben keine Rubato-Nummer. Passt aber alles absolut perfekt zur Musik.

Das als Einzelkämpfer in DAWs nachzubauen ist wie gesagt äußerst schwierig, speziell dann, wenn viel Audio beteiligt ist, denn irgendwann haut's halt mit dem nachträglichen Stretchen/Stauchen nicht mehr so geil hin.
Am besten funktioniert sowas, wenn man einen wirklich guten Guide-Track für den Anfang hat, bspw. Schrammelgitarre und Vocals. Auf Basis dessen kann man dann reclocken und danach alles andere hinzubauen (und den Guide-Track am Ende auch wieder weghauen). Ist aber alles kein wirklicher Ersatz für eine gut eingespielte Band.

 

[ranzman]

sehr interessanter Thread; danke für das Thema. In meiner Erinnerung ging das etwa so: ne Band braucht eine gewisse Zeit, bis sie richtig gut ist. Das ist der Moment, ab dem alle "auf den Punkt" spielen. Ab da kann die Band prinzipiell auch zu nem Clicktrack spielen (war zumindest bei uns so). Und ein paar Monate/Jahre weiter klappt das vielleicht auch, dass die hier beschriebenen Temposchwankungen dann auch so toll organisch klingen. Ist dabei Absicht im Spiel, gehört natürlich mehr oder weniger geniales Songschreibing ebenfalls in die Tüte.
Übertragen auf den lonley Homerecorder müsste der in diesem Sinne zuerst perfekte Pilottracks einspielen und sich daran entlang abarbeiten.
Aus meiner Sicht maximal theoretisch und ähnlich ins Nirwana führend wie Diskussionen über Microtuning mit Leuten, die ihre Gitarre nicht stimmen können.