Wie greife ich nach einem Stern?

[Andaraginga]

Das LI

Was ist das?

https://de.m.wikipedia.org/wiki/Lyrisches_Ich

 

[artname]

Naja, müssen musst du gar nix!

Aber da ich offensichtlich auf deine Interesse stoße, nochmal zur syntaktischen Struktur deines Textes. Zum Leiern im engerem Sinne. Nehmen wir mal S1

Zuerst deine vier Kurzsätze, alles ist mE schon verbraten.

Neue Klamotten, neue Frisur.
Bei aller Sorgfalt neben der Spur.
Wenn du mich ansiehst, flattert mein Herz.
Wenn du nicht herschaust, weint es vor Schmerz.

Hier aus der Hüfte zwei andere Vorschläge. Dabei geht es vor allem daru, metrisch oder semantisch einen offenen Beginn zu schreiben:

1. Ansatz Gebrochener Schachtelsatz (offener Beginn)

Neue Klamotten, diese Laune von mir
verbindet ich nun ab heute mit dir
Falls du mit mir verbunden sein willst
in diesem Zeiten, so wie ich fühlst

2. Absatz (wandernde Zäsur)

Was für ein Kleid, nur wegen dir
Himmel, was spielst du wieder mit mir!
Soll ich dem Herz vertrauen? was geht.
Zu früh? Mag sein. Aber nicht zu spät.

Beide Ansätze sollen eigentlich vor allem einem Leiern vorbeugen. Siehst du die Unterschiede?

Aber selbst, wenn du es hier nicht siehst, Diese Aneinanderreihung von Kurz Sätzen ist typisch für dich.,, und Hemingway. Aber Hemingway wiederholt einen Gedanken nicht so häufig.

Ansonsten: Wer sich tolle Rhythmik reinziehen will, muss Rilke lesen!

 

[Teestunde]

Rilke. Den muss ich wiederentdecken. Hab ihn mir mit 20 etwas übergelesen und konnte ihn dann nicht mehr sehen.
Wilhelm Busch wäre mein Favorit. Er ist ein Meister der Kurzsätze. Hab gerade ein Buch am Wickel.

Auf jeden Fall sind deine Strophen dramatischer. Ich handhabe die stilistischen Mittel nicht so bewusst. Das fehlt mir. Immer wenn ich mich mit Theorie beschäftige, bin ich total gehemmt.

 

[artname]

Wilhelm Busch wäre mein Favorit. Er ist ein Meister der Kurzsätze. Hab gerade ein Buch am Wickel.

Wilhelm Busch ist, wie jeder Meister, lehrreich. Mal willkürlich:

Es sitzt ein Vogel auf dem Leim
Es sitzt ein Vogel auf dem Leim,
er flattert sehr und kann nicht heim.
Ein schwarzer Kater schleicht herzu,
die Krallen scharf, die Augen gluh.
Am Baum hinauf und immer höher
kommt er dem armen Vogel näher.

Der Vogel denkt: Weil das so ist
und weil mich doch der Kater frisst,
so will ich keine Zeit verlieren,
will noch ein wenig quinquillieren
und lustig pfeifen wie zuvor.
Der Vogel, scheint mir, hat Humor.

Wenn hier etwas wiederholt wird, dann lediglich das Versmaß. Nicht der Inhalt. Der ist von Vers zu Vers neu. Nicht erklärend, sondern szenisch agierend!! Und wenn du mal genauer hinsiehst, dann braucht er in S1 mindest 2 Verse für eine Aussage. In S2 allerdings 5 (!) Verse für eine Aussage. Nix da mit Kurzsatz, das ist ein fetter Schachtelsatz!

Und somit komme ich zu einem zweiten Zitat:

Immer wenn ich mich mit Theorie beschäftige, bin ich total gehemmt.

Das ist so, als sagte ein Sänger: „Immer, wenn es um Atemtechnik geht, bin ich blockiert“ Form ist keine Theorie, sondern gehört zum Gedicht, wie das Skelett zum Körper!!!

Zurück zu Busch. Zeig mir, wo du eine unterhaltsame Aussage über 5 Verse ziehst. Solche Sätze erzeugen automatisch Tiefe. Nimm mal S2. Das könnte man leicht vertonen, weil jeder Vers zugleich Eigenständiges sagt!! Und dennoch nicht von Kuraussage zu Kurzaussage hetzt! Sondern gebunden eine Aussage teilt: Wenn ich morgen stürbe, pflanzte ich heut noch einen Baum... oder ähnlich!

 

[Teestunde]

Bin gerade unterwegs. Aber heute Abend geht's weiter.

 

[artname]

Ich hatte vor vielen Jahren einen Komponisten, der hat mich tyrannisch gequält mit seiner Meinung, eine Musiktext-Zeile dürfe nicht rückbezüglich sein, denn das schaffe Irritationen und der Hörer verlöre den Kontakt zu Musik. So habe ich begonnen, ähnlich wie du Kurzsätze zu schreiben,
Automatisch verloren meine Texte an Tiefe, weil ich auf Reflexionen verzichtete.

Ausgerechnet die Straße, der Rap, zeigte dieser Auffassung den Stinkefinger. Die Fans lesen die Texte extra wie Gedichte, lernen die extremen Langverse teilweise auswendig - und die alten Schreib-Regeln gelten scheinbar nicht mehr.

Dieser neue Rezeption setzt sich langsam auch in anderen Musikgenres durch und man kann mutiger schreiben als je zuvor.

 

[Teestunde]

@artname Ich hab mal versucht, mich mit Rap zu befassen. Leider kann ich kaum einen Titel bis zuende hören, weil mich die Musik einfach nervt. Gelesen finde ich die Inhalte durchaus spannend. Was mir gefällt ist die gnadenlose Ehrlichkeit. Natürlich gibt es auch Retorten-Rapper, aber nicht in der Mehrzahl. Mit Ehrlichkeit meine ich das Ausloten der Abgründe, nicht nur das Schöpfen aus der Biografie. Teilweise ist es erschreckend, wie weit sich die Jungs in den Wahnsinn hineinwagen.

Das ist so, als sagte ein Sänger: „Immer, wenn es um Atemtechnik geht, bin ich blockiert“ Form ist keine Theorie, sondern gehört zum Gedicht, wie das Skelett zum Körper!!!

Wem sagst du das. Ich war mit einem Sänger verheiratet. Da war es obligatorisch, schon frühmorgens mit Atemübungen anzufangen. Fürs Warmwerden. Dann bis Mittags Sprech- und Gesangsübungen, damit die Stimme läuft, wenn man sich so gegen Nachmittag an die schwierigen Stellen des Parts heranmacht. Dann kurzes Nickerchen und ab ins Theater...

 

[artname]

Wem sagst du das...

Teestunde, ich kommentiere eher selten ohne provokante Hintergedanken.

Zum Rap. Wenn man die amerikanischen Geschichte des Raps verfolgt, stößt man in dem Zusammenhang auf zahlreiche Morde und Opfer. Wenn man generell die Geschichte der Kunst verfolgt, auch. Nicht umsonst waren die meisten Dichter der Zwanziger Jahre 10 Jahre später von Tode bedroht. Die Ursachen mögen verschiedene sein, aber das Risiko haben v.a. freche Texte geschaffen.

Teestunde, du bist keine Rapperin. Aber wir leben mitten in der Krise. Der Futterneid wird steigen und damit die Einsätze, die man im Spiel als Autor bieten muss.

Übrigens danke für den Hinweis auf Busch. Auch dieses (gemeinfreie) Gedicht ist stilistisch sehr anregend!. Passt irgendwie als Epilog zu unserer Diskussion.

Höchste Instanz
Was er liebt, ist keinem fraglich;
Triumphierend und behaglich
Nimmt es seine Seele ein
Und befiehlt: »So soll es sein.«

Suche nie, wo dies geschehen,
Widersprechend vorzugehen,
Sintemalen im Gemüt
Schon die höchste Macht entschied.

Ungestört in ihren Lauben
Laß die Liebe, laß den Glauben,
Der, wenn man es recht ermißt,
Auch nur lauter Liebe ist.

 

[Teestunde]

Artname, ich hab mich redlich bemüht, bin allerdings nur zu einer anderen, aber wohl keiner besseren Lösung gekommen. Hier das Ergebnis.

Hallo! hört sie sich sagen

Neuerdings joggt sie für ihre Figur,
trägt schicke Kleider und pimpt die Frisur.
Bist du das noch, fragt ihr Spiegelgesicht.
Ist sie’s? Die Übung verwandelt sie nicht?
Sie tut verzweifelt, als ob es so wär.
Alles für ihn und er schaut nicht mal her.

Hallo! hört sie sich sagen,
die Stimme wie von weit.
Hallo? hört sie ihn fragen.
Ich warte schon seit Tagen!
Wann hast du denn mal Zeit?

Keiner war gut genug, keiner perfekt.
Erst bei ihm hat sie die Waffen gestreckt.
Will ihm gefallen und macht sich zum Clown,
bringt es nicht fertig, sich selbst zu vertraun.
Warum verliebt sie sich auch über Nacht?
Was, wenn er sich nun mal nichts aus ihr macht?

Hallo! hört sie sich sagen,
die Stimme wie von weit.
Hallo? hört sie ihn fragen.
Ich warte schon seit Tagen!
Wann hast du denn mal Zeit?

All ihre Knitter, wer streichelt sie glatt?
Das Lob der Freundinnen hat sie längst satt.
Kein Kompliment, das ihr irgendwas gibt,
solange jener nur schweigt, den sie liebt.
Wenn das so weitergeht, platzt ihr Verstand.
Endlich nimmt sie mal das Handy zur Hand.

Hallo! hört sie sich sagen,
die Stimme wie von weit.
Hallo? hört sie ihn fragen.
Ich warte schon seit Tagen!
Wann hast du denn mal Zeit?

 

[Teestunde]

Komisch, dass es über Wilhelm Busch überhaupt keinen Spielfilm gibt. Ich vermisse es regelrecht. Es gibt keinen Dichter, der mir annähernd so viel gegeben hat wie er. Er begleitet mich, seit ich überhaupt lesen kann.

 

[artname]

Zum neuen Text:

Auf jeden Fall leiert der Text mE weniger. Du hast eben Talent. Aber das kannst du noch besser

Der Text ist momentan unruhiger, unrunder geworden. Das ist normal. Du musst dich von einer Schreibweise trennen und einen anderen Raum probeweise betreten, dich umschauen, die Möbel umstellen. mal so, und dann doch wieder so, oder ganz anders? Das kann bei mir Wochen dauern

1. ich würde weiter bei der Ich-Perspektive bleiben. Was nicht zu deinem LI passt, passt letztlich erfahrungsgemäß auch nicht zum Publikum.

2. Ich würde genau hinschauen, wo die Figur echt handelt oder empfindet - und wo die Autorin schummelt, Handlungen und Gefühle erklärt, statt zu zeigen, Erklärungen machen mE die Spannung und das Frische kaput

3. Aus meiner Sicht sollte das LI einen Moment beschreiben, wo es ein klares Ziel verfolgt. Und Freude daran hat. Spannung empfindet wie bei einem Spiel. Und das Spiel lautet ( jedenfalls bei mir) immer: Ich spüre intuitiv etwas, dass mich irgendwie weiter zu mir bringt. Egal wann, wie lange oder wohin Es sollte um ein angenehmes Kribbeln im Bauch gehen... um bevorstehenden Sprung vom 3-Meter-Brett - und längst nicht mehr um die Angst, überhaupt auf den Turm zu klettern...

Lies nochmal oben bei Busch, wie er in die Tiefe dringt, über einen verschachtelten Satz, 4 x gebrochen, so dass letztlich eine Strophe mit 4 vierhebigen Versen entsteht. Übe das in Ruhe und mit Lust!

 

[Teestunde]

Mach ich. Aber erst ab morgen. Ich schlafe gleich ein. Danke für deine Gedanken und gute Nacht

 

[Teestunde]

So.

Wer sagt mir, dass er Schlanke mag

Wie wär’s mit Jogging für die Figur,
schicken Klamotten, toller Frisur?
Mach dich ans Werk, grinst mein Spiegelgesicht:
Bist du nun in ihn verknallt oder nicht?
Ja, sag ich kleinlaut, mit jedem Tag mehr.
Bloß, so ne Metamorphose ist schwer.

Wer sagt mir, dass er Schlanke mag?
Da drehe ich dann Tag für Tag
meine Runde um das Haus,
werde dünn und dann – ist’s aus!

Keiner war gut genug, keiner perfekt.
Erst bei ihm hab ich die Sehnsucht entdeckt.
Alle Versäumnisse der letzten Zeit
haften an mir wie ein Brennnesselkleid.
Ich muss mich selber erlösen und schnell.
Wer bin ich, dass ich Bedingungen stell?

Wer sagt mir, dass er Schlanke mag?
Da drehe ich dann Tag für Tag
meine Runde um das Haus,
werde dünn und dann – ist’s aus!

Wird nicht gesagt, dass man fürchterlich friert,
wenn man die schützenden Kilos verliert?
Blödsinn, kauf Sportschuhe! Auf in die Schlacht!
Oh, dieser Spiegel mit all seiner Macht!
Gut! Morgen früh! Doch nun Erdnüsse her!
Immerhin ess ich die Dose nicht leer.

Wer sagt mir, dass er Schlanke mag?
Da drehe ich dann Tag für Tag
meine Runde um das Haus,
werde dünn und dann – ist’s aus!

 

[artname]

Interessant, deine Übungen zu verfolgen! Formal hast du mich scheinbar gut verstanden: Die Zäsuren wechseln ständig! Das bereitet dir wenig Mühe! Aber es ist mir noch zu formal!

Ich gehe da etwas anders ran. An Anfang steht eine Idee. „Wer sagt mir, dass er Schlanke mag“ finde ich schon mal ganz nett. Es deutet mE einerseits auf etwas Übergewicht des LI. Und andererseits auf eine Sehnsucht.

Wenn ich das für eine fremde Sängerin schriebe, wäre die erfahrungsgemäß meist eher nicht dick. Also joggt die eventuell sowieso gern. Dann gäbe es einen Konflikt zwischen Sängerin und deinem Text. Aber natürlich gibt es auch Beleibtere. Die würden mE aber vermutlich eher sagen; Wer mich nicht mag, wie ich bin, der kann mich mal!

Diesen Konflikt würde ich zuerst lösen wollen. bevor ich die ersten ernst gemeinten Verse schreibe. Vermutlich wäre meine erste Idee:“ Wer sagt mir, welchen Typ er mag?!“ Das wäre ein Thema, was mir echt gefiele, denn ich habe neben eigenen auch Erfahrungen mit den unterschiedlichsten weiblichen Figuren gemacht.

Vermutlich müsste ich jetzt umdenken: Eine erfahrene Frau betrachtet unterschiedlich gewichtige Männerfiguren. Sie fragt sich, ob sich Gegensätze anziehen oder Gleich und Gleich. Das verspräche mir schon mal viel Schreib-Spaß und eine lebhafte Sprache böte sich automatisch an!

Nun würde ich mehrere (!) Anfänge schreiben, bis meine innere Stimme zum ersten Mal ruft:“Geil!!!“

Erst dann hätte ich das erste Versmaß, welches sich als „Gewohnheitsmaß“ für mich eignen könnte! Damit würde ich eine erste Strophe schreiben. Dabei könnte sich das Gewohnheitsmass natürlich noch mehrfach ändern.

So finde ich gewöhnlich langsam den geeigneten Tonfall meines Textes: Ironie, Sarkasmus, Melancholie, Romantik usw. Wenn ich mir erstmal darin sicher, brauche ich nur noch ein paar Stunden für einen ersten gelungenen Entwurf!

Verstehst du mich?

 

[Eiermann]

Interessant, deine Übungen zu verfolgen! Formal hast du mich scheinbar gut verstanden: Die Zäsuren wechseln ständig! Das bereitet dir wenig Mühe! Aber es ist mir noch zu formal!

Stimmt, aber ihr zwei geht gut aufeinander ein, macht ja mal richtig Laune euch zu lesen.
Weiter so, es fruchtet immer mehr.

 

[akStudio]

Stimmt, aber ihr zwei geht gut aufeinander ein, macht ja mal richtig Laune euch zu lesen.
Weiter so, es fruchtet immer mehr.

Geht mir genauso, auch für einen Nicht-Texter wirklich interessant.
Obwohl mir bereits die erste Version gut gefallen hat, lese ich den Fortgang der Dinge mit Respekt

 

[Teestunde]

War heut den ganzen Tag verhindert. Morgen geht's weiter.

 

[Teestunde]

Diesen Text hab ich geschrieben, ohne irgendeinen Interpreten im Auge zu haben. Einfach nur für mich. Das soll jetzt keine Ausrede sein. Sicher könnte ich ihn umarbeiten und ihn dem jenigen anpassen, der ihn singen will. Aber in diesem Fall würde ich doch lieber versuchen, etwas Anderes zu finden. Dieser Text gehört (zu) mir.

Nun würde ich mehrere (!) Anfänge schreiben, bis meine innere Stimme zum ersten Mal ruft:“Geil!!!“

Himmel! Ich bin schon froh, wenn mir meine innere Stimme wenigstens einen Anfang gönnt.

 

[artname]

Himmel! Ich bin schon froh, wenn mir meine innere Stimme wenigstens einen Anfang gönnt.

Du hast mich noch nicht richtig verstanden! Ich schreibe die Anfänge schnell und kalt. Reines Handwerk. 3-4 verschiedene Reimschemata, 3-4 verschiedene Versmaße, 3-4 verschiedene Syntaxe usw.

Irgendwann kommt formal was raus, was mich anspricht. Mit dem mach ich dann weiter. Und erst dann beginne ich ernsthaft über Ideen nachzudenken. - Das kannst du auch!

 

[Teestunde]

Gut. Dann versuch ich das. Wenn du mir das zutraust. Dazu brauche ich allerdings Abstand. Bisher hab ich mich immer erst ans Werk gemacht, wenn es mich "gepackt" hat, wenn das Holz Feuer gefangen hat. Du schreibst VORHER drauflos, gewissermaßen. Bis das Holz Feuer fängt. Ist das ungefähr richtig?