Ich hab eine ganze Menge Gedanken zu deinem Text und dessen Entstehung.
1. Ich "fürchte" das fertige musikalische Stück wird mir gefallen und wird die Eindrücke und Gedanken beim Lesen des Textes ohne Musik übertünchen und teilweise theoretisch erscheinen lassen.
2. Beim ersten Lesen des Textes, noch ohne Wissen, wie der Text entstanden ist, fand ich ihn eher schwach. Ich hab nicht verstanden, worum es geht und empfand die Story als zu kompliziert. Beim Refrain hatte ich das Gefühl, dass der zu sehr einen ganz neuen Gedanken reinbringt und zu weit weg ist vom Rest.
3. Als ich gelesen hab, dass der Text Ergebnis des Worksheets ist, hab ich da noch mal nachgelesen und erstaunt festgestellt, dass mir die Grundidee sehr gefiel.
4. Durch die Hintergrundinfo des Worksheets versteh ich den Text und dessen Intention, find ihn aber immer noch eher schwach (was absolut erwähnenswert ist, da ich Sachen von dir sehr oft sehr gut find).
5. Mein Eindruck ist, dass die Worksheet-Methode beim vorliegenden Text noch mehr Nachbearbeitung benötigt. Die Idee und den Verlauf der Story vorab zu skizzieren, funktioniert. Was sich vorab aber nur schwer fassen lässt, ist das Gefühl fürs richtige Tempo, wie lang ein bestimmter Aspekt behandelt wird, bevor zum nächsten gesprungen wird.
Ich find die Entwicklung beispielsweise am Anfang viel zu schnell:
Jeder kennt dich hier seit vielen Jahren
Diese Jahre hast du mir gefehlt
Niemand außer Oma hat von dir erzählt
Deine Stimme hört sich an wie Heimat
Deine Blicke wärmen wie Kaffee
Woran siehst du, dass ich rastlos schlafen geh?
Tausend Fragen hab ich dir noch nicht gestellt
Und nun bist du der, der wissen möchte, was mich quält
Treibt dich Angst in die Zukunft?
Dann lach ihr ins Gesicht
Nutz deinen Vorrat an Träumen
Dann kriegt sie dich nicht
* 3 Zeilen für die gesamte Vergangenheit mit jahrelanger Suche, Enttäuschung, etc.
* Danach sofort der Riesensprung, zeitlich in die Gegenwart und inhaltlich in eine gänzlich veränderte Konstellation mit plötzlicher Vertrautheit und einer Umkehrung der Gesprächsführung
* Dieser Punkt vom weisen, das Gespräch dominierenden Vater, den ich sowieso schon irgendwie zu konstruiert und zu schnell eingeführt empfinde, wird dann noch weiter geführt in eine Richtung, die mir -wie gesagt- zu weit weggeht vom Rest der Geschichte und die ich inhaltlich auch eher dünn finde.
6. Noch mehr ins Detail gehend und das Sprachliche betrachtend find ich die allersten drei Zeilen interessant:
Jeder kennt dich hier seit vielen Jahren
Diese Jahre hast du mir gefehlt
Niemand außer Oma hat von dir erzählt
Ich hab ja schon mal geschrieben, dass ich Texte gerne betrachte wie einen Film. Kann ich mir ausgehend vom Text Bilder machen und was vorstellen, finde ich das gut.
Bei den vorliegenden drei Zeilen wird das aus folgenden Gründen schwierig:
* Die drei Zeilen haben drei verschiedene Akteure (Jeder, du, Oma). Will ich mir ein Bild machen, muss ich zweimal "springen".
* "Jeder" ist abstrakt und lässt sich gar nicht "richtig" darstellen
* Die Sätze beschreiben, aber zeigen nichts (das berühmte "show, don't tell"). Der Film zu "jeder kennt dich" wären Passanten, die grüßen oder zuwinken, der zu "hast mir gefehlt" wären Situation, in denen das LI sucht, recherchiert, oder sonstwas macht.
Als Alternativbeispiel musste ich bei dieser Zeile unwillkürlich an "Junimond" denken (Strophe 2: "2000 Stunden hab ich gewartet. Ich hab sie alle gezählt und verflucht, usw..."). 5 Zeilen lang Bilder, Fokus immer nur aufs "Ich".
* Was ich richtig toll finde, ist wenn man Bilder findet, die auch noch kreativ, unverbraucht und treffend sind.
* Ich hab einen Lieblingstexter, der es nicht nur schafft, interessante Bilder zu finden, sondern diese auch so geschickt verwendet, dass Strophen eine eigene kleine Dramaturgie haben mit Interesse oder Überraschung erzeugen am Anfang und/oder der Auflösung oder Pointe am Schluss.