Interview mit Werner Karma

[hermestc]

Entwicklungen wie 68, sexuelle Befreiung, Ökonomisierung, Kulturmarxismus etc. sind am Osten mehr oder weniger vorbeigegangen. Dort konnte man - systembedingt - weiter einem romantischen Weltschmerz frönen und den alten idealistischen Traum von der besten aller Welten träumen. So schön ur-deutsch, mit einer gewissen Schwere, mit melancholischem Unterton, immer total, tiefgründig und grundsätzlich. Als es sich abzeichnete, dass dei beste aller möglichen Welten doch nicht entstehen wollte, flüchtete man - wie weiland in Romantik und Biedermeier - ins Kleine, ins Private und in die Natur.

Sehr spannende Ansätze und gefühlsmäßig passt das, aber auch im Westen haben einige Inseln des romantischen Weltschmerzes mit einer gewissen Schwere überlebt ...Leider macht sich aber auch gerade jetzt im Osten eine tiefgründigkeitstötende Oberflächlichkeit breit, die gepaart mit nicht-reflektiertem Weltschmerz, die Nazis wieder in den Reichstag ziehen lässt. Sorry, das war zu politisch, aber man kann ja nicht nicht-politisch sein.

 

[hermestc]

Idealerweise sollte die betonte Silbe zugleich ein Vokal sein, besonders beim Schlager.

Wie sollte denn die betonte Silbe ein Nicht-Konsonant sein!?

mal ein Beispiel: Griechischer Wein singt sich tausendmal besser als Griechischer Schnaps.

Das Beispiel verstehe ich. Sollte die Silbe am Zeilenende volltönend sein (also möglichst kein Schwa) und möglichst keine Affrikate (ts, pf, ps etc.)?

 

[rho]

@Turquoise, deine Interpretation ist ja sehr nah an Karma dran. Er formuliert es nur eleganter Was Deutschlands Mittellage und die ihre kulturellen Einflüsse angeht, hast du m.E. ebenfalls Recht. Thomas Mann ist da ein gutes Beispiel. Nach dem ersten Weltkrieg war er noch ein Anhänger einer deutschen Art von "östlicher Seelentiefe", die mit neumodischem West-Kram wie parlamentarischer Demokratie nichts zu tun haben wollte. So schrieb er als Junger Mann "Die Betrachtungen eines Unpolitischen". Im Laufe des zweiten Weltkriegs begann er diese Haltung zu bereuen. Dabei war er vom Amerika seiner Zeit (sprich von der Sozialpolitik des "New Deal") euphorisiert.
Wie auch immer, ich finde den Gedanken, dass sich gewissermaßen Vorkriegskultur in der DDR auf seine Art konservieren konnte, interessant. Dazu kommt allerdings, dass die DDR die Rechtsnachfolge des sog. 3. Reiches im Gegensatz zur BRD stets abgelehnt hat. Man verstand sich pre se als reingewaschen und als Sendboten des Weltfriedens. Wie wir alle wissen, war das auch bigott. Ohne jetzt vorschnellen Urteilen Vorschub leisten zu wollen, führte dieser Umstand zu einem fundamental anderen Verhältnis zur deutschen Geschichte als es sich im Westen etabliert hat. Dazu kommt eine nicht von der Hand zu weisende deutlich geringere Gewöhnung an Immigration. Da halte ich vieles für erklärbar, wenn auch schwer zu ertragen.

 

[Teestunde]

Dazu kommt eine nicht von der Hand zu weisende deutlich geringere Gewöhnung an Immigration. Da halte ich vieles für erklärbar, wenn auch schwer zu ertragen.

Die DDR war hinter den Kulissen sogar ausländerfeindlich. Wir, unsere Familie, waren mit Vietnamesen und Russen befreundet. Ich musste in meiner Klasse viel Häme ertragen, als sich das herumsprach. Überhaupt darf man die in fast allen Lebenslagen anzutreffende Schizophrenie nicht außer Acht lassen. Es gab hinter der offiziell herausgekehrten Identität immer oder fast immer die private. Ein Mensch konnte privat nichts gegen dich haben und dich offiziell wegen irgendwelcher Verfehlungen in Bausch und Bogen verdammen. Da sog man jede Textzeile eines authentischen Künstlers auf wie Honig. Das kann man sich heute, wo alles gesagt werden darf, kaum noch vorstellen.

 

[rho]

Ich dachte auch an diese "Schizophrenie", da ich im beruflichen Alltag schon oft damit zu tun hatte. Aber ich fand, dass mir als Wessi diese Bewertung in einem öffentlichen Forum nicht zusteht. Insofern, vielen Dank @Teestunde. Da überwiegt der Respekt vor den Umwälzungen und Enttäuschungen der "Wende", von denen man sich als Wessi kaum eine Vorstellung machen kann. In solchen Debatten fehlt mir i.d.R. der Respekt vor der schnöden Alltagsefahrung der Menschen. Auch heutzutage leben wir ja nicht als Mitläufer oder Widerständler, sondern als irgendwelche Leute, die irgendwie zu Rande kommen wollen. Und da könnte ich beredtes Zeugnis von der alltäglichen Schizophrenie eines Wessis der Gegenwart ablegen. Als Kind erschien mir die Welt aufgeteilt in "die gehirngewaschenen mundtoten Zwangsarbeiter" und "wir". Mittlerweile ahne ich, dass nur die Methoden des Westens subtiler sind und viraler wirken.
Oder so...