Unheimlich

[artname]

Hier mal ein Entwurf für eine bekannte ausländische Band. Das heißt, der Text muss wirklich überzeugen. Wie kommt der Text bei euch an? Er ist auf Musik geschrieben, auf einen Hit im Heimatland. Ist aber keine Nachdichtung, sondern ein sogenannter Spezialtext.

1
Wenn der Doktor beim Lesen
keine Miene verzieht,
Wenn der Mann hinterm Tresen
Jeden Wink übersieht
ist das peinlich
und unheimlich
Irgendetwas
läuft verquer

2
Wenn die Nachbarn verstummen
Obwohl du sie grüßt
Wenn der Zöllner 'ne Stunden
deinen Reisepass liest
ist das peinlich
und unheimlich
Irgendetwas
läuft verquer

Ref:
Soll der Himmel entscheiden
oder die Sterne
Solln die Götter sich streiten
in weiter Ferne
Ich kann gehn oder bleiben
und Geständnisse schreiben
Ich bereue nichts
Ich vermisse dich

3
Wenn die Feinde nicht wanken
Bettler nicht danken
Dich die schönen Friseusen
im Spiegel nicht mögen
wie peinlich
und unheimlich
Irgendetwas
läuft verquer

Ref:
Soll der Himmel entscheiden
oder die Sterne
Solln die Götter sich streiten
um mich in der Ferne
Ich kannte gehn oder bleiben
und Geständnisse schreiben
Ich bereue nichts
Ich vermisse dich

C-Teil

Ein Gang fühlt sich leicht an,
und ist tief wie das Meer.
Ich tauch in Gefühlen
versuch mir zu erzählen
dass leicht wirklich leicht wär

Soll der Himmel entscheiden
oder die Sterne
Solln die Götter sich streiten
um uns in weiter Ferne
Ich kann gehn oder bleiben
Und Geständnisse schreiben
Ich bereue nichts
Ich vermisse dich

Soll der Himmel entscheiden
oder die Sterne
Solln die Götter sich streiten
in weiter Ferne
ich kann gehn oder bleiben
Und Geständnisse schreiben
Ich bereue nichts
Ich vermisse dich

 

[Teestunde]

Auf jeden Fall beschreibst du ein Gefühl, das wahrscheinlich jeder kennt. Damit hast du schon mal einen Fuß in der Tür.

 

[Turquoise]

Ich find's v.a. rhythmisch sehr gut. Auch der Wiedererkennungswert der Strophen ist hoch. Eignet sich gut. Nur der Refrain - leider das Wichtigste - sackt gegenüber den Strophe etwas ab. Er ist zu wenig griffig, es fehlt ihm die große Pop-Formel, die alles auf den Punkt bringt. Im Grunde hast Du da auch nur eine weitere Strophe geschrieben und festgelegt, das ist halt jetzt der Refrain. Aber man weiß z.B. schon mal nicht, was denn jetzt die zentrale Aussage der Refrain-Strophe ist. Die Einganszeile? Oder doch die letzten Zeilen? Und was hat das dazwischen für eine Funktion?

Ich würde da nach einer besseren Lösung suchen.

 

[jet2]

mir fehlt die hook, die im gedächtnis kleben bleibt.
mich hätte auch interessiert,
warum das li nichts bereut, obwohl es vielleicht etwas zu gestehen hat, warum es gehen oder bleiben könnte, warum etwas verquer läuft und warum das ld vermißt wird.
antworten oder andeutungen zum kontext werden in den lyrics nicht mitgeliefert.
ansonsten sind da bei den strophen sehr unterschiedliche situationen geschildert, die in der intensität nicht unbedingt vergleichbar sind:
der doktor, der beim lesen keine miene verzieht, klingt für mich zb. deutlich gravierender, als der mann hinterm tresen, der nicht reagiert.

 

[Turquoise]

Inhaltlich erinnert es im Refrain ein bisschen an das, was im deutschen Mainstream-Pop leider schon länger Mode ist: irgendetwas Pseudophilosophisches zu sagen, das in möglichst viele Richtungen interpretierbar ist (unsere Stunde / der Moment / nie vergessen / Moment wird bleiben / zusammengekommen / hoch geflogen usw.), aber bei Lichte betrachtet eigentlich gar nichts Wirkliches aussagt. Von daher scheint mir der Text ein bisschen auf die Marktbedürfnisse zugeschnitten. Wenn Du mich fragen würdest - ich würde mir wieder mal etwas nicht-mainstreamiges wünschen, etwas, das ein bisschen mehr aha-&-genau-effekt erzeugt.

 

[artname]

Herzlich Dank @All für Eure Kritiken

Ich will weitere Stimmen sammeln. Deshalb gehe ich noch nicht auf euch ein.

 

[jet2]

noch ne bemerkung dazu:
sorry, kann mir irgendwie nicht helfen.
der text wirkt auf mich wie generiert und nicht geschrieben.

 

[TheButcher]

Vielleicht will der zweifelsohne super Schreiber/Dichter in dir, im Refrain zuviel schreiben/dichten anstatt einfach zu sagen um was es geht

 

[artname]

Ok. Da muss ich nun wohl doch Einblick in die Entstehung bieten. Vorab: Ihr seid super!

Ich begann vor Wochen mit der Refrainmusik. Die pendelt bei 120b/m durchaus mitreißend, mit Vorziehern arbeitend, immer zwischen T und SD.

Soll der Himmel entscheiden oder die Sterne
Solln die Götter sich streiten in weiter Ferne
Ich kann gehn oder bleiben
und Geständnisse schreiben
Ich bereue nichts
Ich vermisse dich

Und noch ein spezielles Problem war zu bewältigen. Die fett markierten Silben sind jeweils 16tel Auftakte. Es gibt nicht viele Silbenkombinationen , die bei diesem Tempo flüssig grooven.
Manchmal brauche ich 3, 4 Tage, um die richtigen Silben für schnelle Auftakte zu finden. Allerdings habe ich mir dafür Vorlagen erarbeitet. Handwerk eben.

Schließlich tauchte im Originaltext "Gott" auf. Das reicht manchmal als Trigger. Vor allem, wenn man kurz vorher dem Tod bei einer OP entwischte... Da bekommt man sphärische Ohren.... Kennt ihr das auch?

Jedenfalls packte ich etwas sphärische Wort-Atmo auf die sphärische Töne und da sprühten durchaus diverse Funken.

Für die Strophen hatte ich noch Zeit. Also legte ich den Songtext erstmal beiseite, ohne genau zu wissen, was ich in den Strophen texte. Aber ich hatte einen Plan: Ich wollte etwas über die Liebe an der Seite starker Frauen wie Salome oder Jeanne D'Arc schreiben.

Drei Wochen später setzte ich die Arbeit fort. die Strophen sind lakonisch instrumentiert. Etwa im Stile von Tom Petty, Da passte die Nennung großer Namen plötzlich nicht mehr recht. Mein Schöpfermut verließ mich. Am Abend schrieb ich nur: Strophentext mit der Struktur "wenn... dann"

Und heute setzte ich das um. Textlich blieb eher Platz für das "Wenn". Als "Dann" musste also der Refrain herhalten. Bei Einsingen funktionierte es überraschend gut. Ich habe momentan das Scheitern eines vielversprechenden Projektes zu verkraften. Bin menschlicher sehr enttäuscht von zwei Partnern, die mal liebte. Und fand in dem vorliegenden Song viel Trost.

Nun zu Euren Kritiken.

Ihr seht nun, dass Strophen und Refrain zu verschiedenen Zeiten entstanden. Habt ein feines Ohr, ihr!

@Turquoise, Du hast Recht. Viele moderne Refrains haben etwas Nebulöses. Ich finde das verständlich. Die Gegenwart erscheint nebulöser als je zuvor. Diese Stimmung liegt in vielen Refrains. Nach meinem Gefühl geht vor allem das Vertrauen in das Gute im Menschen verloren.
Das wäre, auf den Punkt gebracht, vielleicht mein Credo. In diesem Refrain lautet mein Credo hingegen: Überlass deinen Weg und deine Liebe dem Schicksal. Bleib offen!

@jet2 : Jeder Mensch hat wenigstens ein dunkles Geheimnis. Geständnisse sind unvergesslich, befreiend und erscheinen einem meist sehr gefährlich. Das Geständnis, bestimmte Menschen zu vermissen, kann zu dieser Kategorie gehören.

Ansonsten: Generieren (erzeugen) und schreiben bedingen sich. Und ich schwöre: Ich bin kein Bot.

Deinen Hinweis, die Intensität der Strophenbeispiele wäre unterschiedlich, teile ich auch! Aber DARÜBER entscheidet sowieso die jeweilige Empfindlichkeit des jeweiligen Hörers. Ich werde aber weiter über deinen Hinweis nachdenken.

@Teestunde hat da scheinbar etwas mehr Vertrauen zur Funktionalität der Strophen.

@TheButcher , tja, schreiben, um was geht... Um was geht es denn im Leben? Hinter jedem Grund steht ein älterer Grund. Manchmal sucht man vergeblich im Gestern und vergißt seine Gene.... Ich bin wohl, warum auch immer, philosophisch angehaucht. Und schon lange nicht mehr der Philosoph in der Tonne... mach was dagegen

Herzlichen Dank und liebe Grüße @ all

 

[Turquoise]

Viele moderne Refrains haben etwas Nebulöses. Ich finde das verständlich.

Die grundsätzlichen Fragen an das oder Eindrücke durch das Leben dürften geblieben sein. Ich denke immer, dass bei den gegenwärtigen Refrains viel PC mit reinspielt. Keiner traut sich mehr was zu sagen, das ihm negativ ausgelegt werden könnte. Also sagt man etwas, das keinem weh tut, das alles und zugleich nichts bedeuten kann.
Wer weiß...

 

[artname]

Die grundsätzlichen Fragen an das oder Eindrücke durch das Leben dürften geblieben sein. Ich denke immer, dass bei den gegenwärtigen Refrains viel PC mit reinspielt. Keiner traut sich mehr was zu sagen, das ihm negativ ausgelegt werden könnte. Also sagt man etwas, das keinem weh tut, das alles und zugleich nichts bedeuten kann.
Wer weiß...

PC=Political Correktness? - Daran fühle ich mich Null gebunden. Vor allem nicht bei eine, Songentwurf. Wenn man beim Entwurf schon den Schwanz einkneift, hat man schon vor dem Start verloren. Und unterschätze nicht die Produzenten. Die befehlen den Textern regelrecht GRIT! Die wollen den Siegeszug des Gangsterraps stoppen. Kaum ein Wörter oder Gedanken, die bewusst vermieden werden.

Ansonsten: Poeten legen sich generell nicht gern fest. Ich habe mich gestern wieder intensiv mit Bob Dylan und Leonard Cohen beschäftigt. Die meisten ihrer Bilder sind vage. Du siehst mein Herangehen auch in Teestundes "Fenster-mit-Sonne-Text ". Für mich ist alles und nichts wahr. Davon bin ich absolut überzeugt. Auch die religiösen Bücher agieren mit vagen Vergleichen. Aber vage bedeutet nicht flau. Ich muss neu überlegen, was ich verschwommen im Hintergrund lasse.. und was ich im Vordergrund neu scharf zeichne.

Nein, die vermutliche Schwäche des Textes resultiert daraus, dass ich keinen neuen Refrain geschrieben habe. Denn DEN hatte ich aus technischen (die 16tel) und atmosphärischen Gründen entworfen. Nun werde ich versuchen, im Refrain dem Herz den Rücken zu stärken. Mal schauen, wie neue Worte und Gedanken auf der Refrainmusik tanzen bzw. abgehen.

 

[Turquoise]

Ja, political correctness. Aber damit meine ich jetzt nicht Dich oder diesen speziellen Text. Sondern ich nehme es als eine allgemeine Strömung im Mainstream-Pop wahr.

Nimm mal den Text "Verlorene Kinder" von Radio Doria. Ein mittelgroßer Deutschpop-Hit des letzten (?) Jahres.

Der Text ist von Anfang bis Ende so vollkommen nichtssagend, dass ich jedesmal wütend werde, wenn er im Radio kommt. Das ist für mich die maximale Blase, die zum Epos aufgeblasene Phrase - schlimmer geht es fast nicht. Sorry. Aber leider wuchert dieses Zeug zur Zeit wie Unkraut in einem Erdbeerbeet.

 

[artname]

Der Text ist von Anfang bis Ende so vollkommen nichtssagend, dass ich jedesmal wütend werde, wenn er im Radio kommt.

Ich ahne, was du meinen könntest, aber nicht sagst. Der Jan Liefers sucht ebenfalls die Vagheit, gibt sich aber zugleich die Schuld dafür, vage zu sein! Das nervt mich hier übrigens ebenfalls.

Ich sehe keinen Grund dafür, mich für mein Leben zu entschuldigen. Ich möchte auch niemanden bitten, mir zu verzeihen. Meine Geständnisse sollen meiner Liebe lediglich die Entscheidung über Gehen oder Bleiben vereinfachen.

Ich suche für meine Existenz keine abfälligen Worte. Ich bin wie ich bin. Und empfinde mich im Grunde als gut! Ich hörte den Jan singen und dachte an Leonard Cohen, der sich mit einem "Bird on the wire" verglich.

Wie ein Vogel hoch auf einem Draht (*)
Wie einer aus dem Chor der Trinker um Mitternacht
Habe ich auf meine Art versucht, frei zu sein
So wie ein Wurm am Haken hängt
Ein Ritter aus alter Zeit treu ist
So bewahrte ich die Bande zu dir

Cohen fand balancierend Vergleiche mit anderen Lebewesen, ohne sich vordergründig zu steinigen.

Die Art, wie sich Jan Liefers zwischen den Stühlen lebend beschreibt, finde ich inkonsequent, nicht unbedingt unsympathisch, aber auffällig lieblos!

Ich danke dir, dass du mir in diesem Fall etwas mehr die Augen geöffnet hast: Was ein Autor einerseits im Vagen hält und was er andererseits scharf in den Vordergrund rückt, sollte vor allem seinen Mut und seine Sensibilität bezeugen.